Exlibris des Monats August 2020 – Der Mann im Mond, ein Gedicht von Mascha Kaléko

Exlibris des Monats August 2020:
Der Mann im Mond, ein Gedicht von Mascha Kaléko
Elena Kiseleva für Birgit Göbel-Stiegler, 2019, kol. Radierung

Mascha Kaléko: Der Mann im Mond
Der Mann im Mond hängt bunte Träume,
Die seine Mondfrau spinnt aus Licht,
Allnächtlich in die Abendbäume,
Mit einem Lächeln im Gesicht.

Da gibt es gelbe, rote, grüne
Und Träume ganz in Himmelblau.
Mit Gold durchwirkte, zarte, kühne,
Für Bub und Mädel, Mann und Frau.

Auch Träume, die auf Reisen führen
In Fernen, abenteuerlich.
– Da hängen sie an Silberschnüren!
Und einer davon ist für dich.

Die Verse der Lyrikerin Mascha Kaléko (1907–1975) sind bis heute bei vielen Menschen wegen ihres leichten und heiteren Tons, hinter dem immer wieder eine hintergründige Melancholie aufscheint, sehr beliebt.

Dabei war das Leben Mascha Kalékos nie wirklich leicht. Geboren als Tochter eines jüdisch-russischen Vaters und einer jüdisch-österreichischen Mutter in Galizien, hat sie schon früh erfahren müssen, was Fluchten sind. Auch in Deutschland, wo die Familie zum Schutz vor Pogromen eine neue Heimat suchte, war das Leben schwierig, da der Vater als „unerwünschter Ausländer“ galt. In den 30er Jahren erzielte Mascha Kaléko in Berlin erste Erfolge mit ihren Versen, 1933 gelang ihr mit ihrem Lyrischen Stenogrammheft der Durchbruch. Damals war den Nationalsozialisten noch nicht bekannt, dass sie Jüdin war. Doch bald wurden auch ihre Bücher verboten wie die vieler anderer Schriftsteller. 1938 floh sie mit Mann und Sohn nach Amerika. 1957 kehrte sie zurück nach Deutschland, doch wanderte sie bald mit ihrem Mann nach Jerusalem aus. – Das Gedicht von Mann im Mond entstand in den 50er Jahren in New York. 

Zu diesem Gedicht hat Elena Kiseleva, eine in der Exlibrisszene bekannte und geschätzte russische Künstlerin, 2019 für Birgit Göbel-Stiegler ein Exlibris radiert, das eine genauso  heitere und beglückende Atmosphäre erzeugt wie das Gedicht.

Ein bisschen erinnert der auf einer Perlenwurzel um den Mond schwebende Baum, an den Elena Kiselevas Mann im Mond Träume für uns hängt, an einen Traumfänger, ein aus der Kultur der indigenen Völker Nordamerikas stammendes Kultobjekt, das sich in den letzten Jahrzehnten auch bei uns sehr verbreitet hat, um vor schlechten Träumen zu schützen. Auch der fliegende Mann im Mond selbst und seine anmutige Mondfrau sehen fremd aus, sie könnten allen oder keiner der uns bekannten Kulturen entstammen, könnten früheren oder zukünftigen Zeiten angehören. Aber wer kann schon wissen, wie der Mann im Mond aussieht? Wichtiger ist es zu wissen, dass er uns mit Träumen beschenkt, und herauszufinden, welcher Traum es ist, der auf jeden von uns wartet.

Auf viele Menschen haben in diesem Jahr „Träume, die auf Reisen führen / In Fernen, abenteuerlich“ gewartet; die Erfüllung dieser Träume verzögert sich leider noch eine Weile. Aber immerhin hängen diese Träume bis dahin auf einer „Silberschnur“. Und während des Wartens können wir uns an dem Gedicht von Mascha Kaléko – das inzwischen sogar schon seinen festen Platz im Grundschulunterricht gefunden hat –  und an dem Exlibris von Elena Kiseleva freuen und uns überlegen, warum Elena Kiselova uns keine „gelbe(n), rote(n), grüne(n)“ Träume gibt und uns stattdessen mit solchen in „himmelblau“ und rosa beglückt, Sei es, wie es wolle, für jeden von uns ist einer da, wenn man der letzten Gedichtzeile Glauben schenkt.   

Ulrike Ladnar

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