Exlibris des Monats März 2021 – Vladimír Suchánek für Ing. František Kyncl, 1976, Lithografie
Jedes Jahr wird in Biografien und in Ausstellungen – wohl auch auf dem einen oder andern Exlibris – der vielen Künstler, Musiker und Schriftsteller gedacht, die einen runden Jahrestag haben. Auch das Exlibris des Monats März 2021 soll an eine bedeutende Persönlichkeit aus diesem Bereich erinnern, und zwar einen Künstler, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum 150. Mal jährt.
Er selbst hätte sich vielleicht eher Handwerker genannt, denn der hier gewürdigte 1796 in Boppard am Rhein geborene Sohn eines Gerbers entschied sich für den Tischlerberuf. Bereits mit 23 Jahren machte er sich selbständig und hatte mit seinem sog. Bopparder Schichtholzstuhl rasch Erfolge. Es war der ebenfalls am Rhein geborene Fürst Metternich, der ihn 1841 auf einer Gewerbeausstellung in Koblenz kennen lernte und nach Wien einlud. Da sich wenig später finanzielle Probleme einstellten, wanderte der Möbeltischler tatsächlich mit seiner Familie dorthin aus und gewann schnell einen guten Ruf, so dass er sich schon 1849 wieder selbständig machte. Bald übertrug er die Werkstatt seinen fünf Söhnen, behielt die Leitung jedoch zu seinen Lebzeiten in seiner eigenen Hand. Die Rede ist von Michael Thonet, und seine Wiener Firma hieß Gebrüder Thonet. Wer war er? Ein Handwerker? Ein Tischlermeister? Ein Geschäftsinhaber? Ein Fabrikant? Ein genialer Kaufmann, der weltweite Handelsbeziehungen aufbaute und seine Produkte an vielen Orten der Welt herstellen ließ? Oder doch ein Künstler?
1850 entstand der Stuhl Nr. 1, so der schlichte Name, und 1859 der Stuhl Nr. 14: bis heute der Stuhl, an den jeder denkt, wenn er vom Thonet-Stuhl hört oder spricht. Das Patent der Thonet-Stühle beinhaltet alles, was den Thonet-Stuhl ausmacht, nämlich die „Anfertigung von Sesseln und Tischfüssen aus gebogenem Holze, dessen Biegung durch Einwirkung von Wasserdämpfen oder siedenden Flüssigkeiten geschieht.“ Ihre eleganten und originellen Biegungen verdanken die Thonet-Stühle also nicht dem Heraussägen aus Holzblöcken oder deren Behobeln, sondern dem Biegen von Buchenholz unter Wasserdampf in gusseisernen Biegeschablonen. Das war billig, weil wenig Abfall entstand, weil es keiner Fachleute bedurfte und weil es überall auf der Welt geschehen konnte. Lange vor der Gründung schwedischer Möbelhäuser passte der Stuhl Nr. 14 in ein schmales Paket, in dem 6 Holzteile, 10 Schrauben und 2 Muttern lagen. Das in die ganze Welt gelieferte Thonet-Standardpaket war einen Kubikmeter groß und konnte 36 Stühle fassen, die erst vor Ort leimfrei verschraubt wurden. –Bis zum Jahr 1930 sind 50 Millionen dieser Stühle hergestellt worden.
Und bis heute wird der lang haltbare Designklassiker in der damals erfundenen Form hergestellt und erfreut sich ungeschmälerter Wertschätzung. Die Frage, wer Michael Thonet ist, ist inzwischen längst beantwortet: Ein Handwerker, der ein Künstler war, ein Pionier des Möbeldesigns, dessen Stühle in Zusammenhang mit dem Modell 209 Le Corbusier mit folgenden Worten lobte: „Noch nie ist Eleganteres und Besseres in der Konzeption, Exakteres in der Ausführung und Gebrauchstüchtigeres geschaffen worden.“*
Auch wenn der Stuhl es in viele Caféhäuser der Welt geschafft hat, so ist er nur selten zu einem Exlibris-Motiv geworden. – Auf einem Exlibris von Vladímir Suchánek für Ing. František Kyncl allerdings meine ich einen Thonet-Bugholzstuhl gut erkennen zu können, nur lässt sich nicht ausmachen, ob die Sitzfläche aus dem Rohrgeflecht besteht, das man bis heute an Möbeln als Wiener Geflecht bezeichnet, denn hier wird der Sitz durch ein Kissen bedeckt. Der Stuhl auf Sucháneks Exlibris verbirgt also eines seiner typischen Merkmale, aber ein Übriges ist noch offensichtlicher: Er ignoriert auch seine typische Funktion, denn alleine kann man ihn höchstens im Museum oder in Möbelkatalogen sehen; gedacht und gebraucht wird er meistens im
Ensemble mit anderen Stühlen seiner Art, um Menschen um einen Tisch herum im privaten Raum zu vereinen oder ihnen im Caféhaus einen Platz im öffentlichen Raum zum Genießen, Lesen oder auch Plaudern mit anderen anzubieten. Auf Sucháneks Exlibris scheint er keinerlei kommunikative Funktion anzustreben, sondern einer künstlerischen Inszenierung zu dienen, indem er zwei roten Kugeln – warum auch immer – eine Präsentationsfläche bietet. Die Wirkung wird durch einen grün über die Szenerie wehenden Gazevorhang aus einem Fenster verstärkt. Ob die Inszenierung einem rein ästhetischen Zweck dient (denn es gibt auch einen tschechischen konstruktivistischen Künstler dieses Namens, auf den angespielt sein könnte) oder ob der Eigner, ein Ingenieur, damit ein physikalisches Experiment vorbereitet, weiß man nicht. Sicher aber ist, dass die Lithografie mit der raffinierten Farbgebung ein ungewöhnliches Motiv in beeindruckender Perfektion gestaltet.
Als ich dieses Exlibris zum Gedenken an Michael Thonet, der am 3. März 1871 verstorben ist, ausgesucht hatte, dachte ich daran, ob man wohl Vladímir Suchánek anmailen könnte, um von ihm etwas über die Hintergründe des Exlibris‘ bzw. die spezielle Auftragsstellung des Eigners zu erfahren. Doch bevor es dazu gekommen ist, traf in der DEG die Mitteilung ein, dass der allseits geschätzte Künstler verstorben ist.
So nehme ich die Gelegenheit wahr, mich mit dem ausgewählten Exlibris auch bei Vladímir Suchánek für seinen großen Beitrag zur Entwicklung des Exlibris in der Gegenwart zu bedanken. – Meistens bevölkern schöne anmutige Damen Sucháneks lithografierte Exlibriswelt; wenn sie denn angezogen sind, dann zeigen sie sich gerne schön und geheimnisvoll im Stil und der Manier vergangener Zeiten, mit Bubikopf oder großen Hüten und mit Zigarettenspitzen und Sektflöten, auf alten bequemen Kanapees, elegant an Jugendstiltischchen gelehnt – und auch hinter dem Stuhl auf dem Exlibris für Ing. František Kyncl sähe man gerne eine von ihnen herbeischweben.
Ulrike Ladnar
*so gefunden bei: www.sojournal.de/de/thonet/ am 20.02,2021; da auch weitere Informationen und Abbildungen