Exlibris des Monats Februar 2022 – Hundert Jahre Ulysses von James Joyce – Eric Neunteufel für Nora Joyce, 2001, C3, C5, S, Stempel

2022 jährt sich der Geburtstag des am 2. Februar 1882 in Rathgar/Dublin zur Welt gekommenen James Joyce zum 140. Mal. Etwas anderes aber, das sich an diesem Tag zum 100. Male jährt, wird dieses Jahr zu einem Joyce-Jahr machen: das Erscheinen des Romans Ulysses nämlich. Joyces Ulysses wird gemeinhin als Jahrhundertwerk bezeichnet, um zu betonen, dass ein auch nur annähernd vergleichbar bedeutendes literarisches Werk wie dieser Roman mit seiner vielschichtigen inhaltlichen und strukturellen Transponie-rung der klassischen griechischen Odyssee in die Moderne wohl nur sehr selten entstehen und gelingen kann. Da nun das Jahrhundertwerk auch wirklich 100 Jahre alt wird, könnte man eigentlich erwarten, dass Prospekte ins Haus flattern oder Anzeigen auf den Bildschirm flimmern, um für eine neue deutsche Übersetzung zu werben. Weit gefehlt. Dabei hatte ein Wissen-schaftler-Team über zehn Jahre lang an einer Revision der Übersetzung von Hans Wollenschläger aus dem Jahr 1975 gearbeitet, um neue Quellen und Forschungsergebnisse in dessen hoch geschätzte deutsche Übersetzung einzubeziehen. Doch die vorgesehene Publikation im Suhrkamp-Verlag, die an ca. 5000 Textstellen Veränderungen vornehmen sollte, scheiterte 2018 am Widerspruch einer Erbin Wollenschlägers. So wird auch im Jubiläumsjahr wieder der vertraute „deutsche“ Ulysses Wollenschlägers angeboten; aller-dings in vier Cover-Varianten: Sie können als Titelaufdruck auf schwarzem Grund zwischen Rot, Gold, Blau oder Türkis wählen.

In Dublin wird seit dem 16. Juni 1954 jedes Jahr der Bloomsday gefeiert. An diesem einen Tag im Jahr 1904 nämlich findet in Joyces ca. 1000-seitigem Roman die Stadt-Odyssee statt, die der Protagonist, der Anzeigen-Akquisiteur Leopold Bloom, absolviert, dessen Wege durch Dublin, seien sie geschäftlich oder privat, mit all ihren Mühen und Nöten und Hoffnungen und Wünschen die LeserInnen detailliert verfolgen können. Jedes erwähnte topografische, meteorologische, architektonische und jedes überhaupt nur denkbare Detail stimmt mit der damaligen Wirklichkeit überein. Der 16. Juni 1904 war übrigens der Tag, an dem James Joyce Nora Barnacle, seiner langjährigen Lebensgefährtin und späteren Frau, begegnete. Mit ihr verließ er noch im selben Jahr Dublin, um sich sein Auskommen anderswo zu suchen: in Zürich, Rom, Paris, Triest, Pula. Als, wie oft kommentiert, Wandere, als einer, der unterwegs ist, wie Odysseus, Ulysses.

Die DEG gedenkt dieses Jubiläums nicht erst am Bloomsday, sondern bereits im Monat der Erstausgabe der ersten Gesamtausgabe des Romans. Das tun auch andere Institutionen oder Städte, in denen bereits jetzt Joyce-Gedächtnisveranstaltungen stattfinden. Zwei möchte ich als Beispiele herausgreifen, ein eher sportliches und ein eher literarisches. So wird in Hamburg zu einem Gedächtnis-Marathon geladen1, während man in Zürich eine Stadt-Odyssee mit einem Lese-Marathon an vielen Orten, auch am Grab des langjährigen irischen Mitbürgers, organisiert2. Da in beiden Orten Mitglieder der DEG leben, hört man vielleicht einmal davon erzählen.

Das als Exlibris des Monats Februar vorgestellte Blatt stammt aus einer Serie von acht Exlibris, die Eric Neunteufel (*1961) in einer Auflage von 9 Exemplaren für Nora Joyce geschaffen hat. Ein Exlibris im eigentlichen Sinn ist das natürlich nicht, sondern ein fiktives Exlibris, ein Dedikationsexlibris, ein Pseudoexlibris oder wie immer man es auch bezeichnen mag. Der Wiener Künstler, der heute eine Werkstatt in Primmersdorf3 betreibt, nimmt in seiner Serie seine Deutung des letzten Teils des Romans vor. Auf ca. 50 Seiten kann man in diesem 18. Kapitel Mollys stream of conciousness folgen, ihrem atemlos erzählten Gedankenfluss, der sich buchstäblich ohne Punkt und Komma vor uns ausbreitet. Molly ist Leopold Blooms Penelope, doch dem klassischen Muster einer treuen Ehefrau folgt sie so wenig wie Leopold Bloom dem eines klassischen Helden. In seiner Serie bezieht Neunteufel die Romangeschichte zurück auf die Beziehungsgeschichte zwischen James und Nora Joyce, die gemeinhin als ein wichtiges Vorbild für Molly Bloom gilt. Genauer gesagt: Er vermischt die beiden Ebenen. Denn auf dem Nora Joyce gewidmeten Blatt stellen (wie auf allen Blättern der Serie) die männlichen Figuren James Joyce dar, während die weibliche Figur direkt aus dem Roman entnommen zu sein scheint. Der Text nämlich verweist auf ein zeitgenössisches Lied von William Shakespeare Hay, in dem sentimentale Liebes- und Treueträume besungen werden und das Molly mehrfach durch den Kopf geht. Dabei fällt ihr ein Leutnant ein, mit dem sie als junges

Mädchen unter der Maurischen Mauer in Gibraltar ihren ersten Kuss tauschte und der sie Mollie darling nannte: „Molly darling he called me what was his name Jack Joe Harry Mulvey was it yes i think a lieutenant he was rather fair …“ Neunteufel zeigt Molly oder Nora, wie sie sich hinter einer geöffneten Tür sorglos und schamlos um-, an- oder auszieht. Schwarze Strapse deuten auf ihre bereitwillige Sinnlichkeit hin, sie ist mit einer Kette geschmückt und ihr Schlüpfer flattert lose um sie herum. Noch oder schon trägt sie einen Hut.
Vor dieser Tür erblickt man auf Neunteufels Grafik dreimal James Joyce. Rechts ist er in jungen und mittleren Jahren zu sehen. Er trägt einen dunklen Anzug, die damals für Iren typische Schirmmütze und hält in der Hand ein Guinness-Glas. Die beiden rechten Joyce-Gestalten wirken angespannt, obwohl sie laut das Mollie-Darling-Lied singen, das sowohl Hoffnung als auch Zweifel ausdrückt. Links steht Joyce als älterer Mann, der bereits unter einer starken Sehschwäche leidet; interessant dabei ist, dass Neunteufel als Vorlage dafür ein Foto des jungen Joyce aus dem Jahr 1904, also dem Jahr, als er mit Nora Irland den Rücken kehrt, nutzt. Aber der ältere Joyce wirkt entspannter und hat die Hände in den Hosentaschen. Er steht mit dem Rücken zur geöffneten Tür, so als sei er mit der Situation schon vertraut, habe sich vielleicht mit ihr abgefunden. Man vermutet angesichts Neunteufels Darstellung nicht, dass diese Frau nur einem einzigen Mann treu ist und nur einen einzigen Mann liebt, wie es die männlichen Figuren in ihren drei Altersstadien wohl erhoffen. Aber direkt nachzuschauen, die Tür zu öffnen und Mollys (oder Noras?) Raum zu betreten, traut sich keiner. Der jüngste scheint sein Lied am lautesten und noch am hoffnungsvollsten zu schmettern, und der älteste singt nicht mehr mit.

Die vielschichtigen Deutungsmöglichkeiten, die die Grafik eröffnet, ergeben sich u. a. auch aus der unkonventionellen Gestaltung von Neunteufels Collage und seiner Nutzung verschiedener Techniken (C3, C5 für den Bildteil, S für den Text, Stempel für den Eignernamen).

Mein Dank gilt meinem verstorbenen Mann Heinz Decker, der dieses Exlibris wie die anderen Joyce-Exlibris unserer Sammlung – er hat sich zeitlebens viel mit Joyce beschäftigt, sei es als Anglist oder Exlibrissammler – mit einigen Hinweisen auf Textstellen u. a. versehen hatte, die ich hier genutzt habe. Sonst hätte ich sicherlich sehr lange Zeit dafür gebraucht, das Zitat im Penelope-Kapitel zu finden.

  1. James Joyce Marathon am 02.02.2022 (Serie ‚Literatur‘, Teichwiesen), 02.02.2022: my.race|result (raceresult.com)
  2. Ulysses 2022 – Eine Stadtodysee in 16 Kapiteln: «Hades» – Stadt Zürich (stadt-zuerich.ch)
  3. graphikwerkstatt – Über uns

Ulrike Ladnar

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